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Bionik und Baubiologie

 

Bionik ist eine Bezeichnung für von der belebten Natur ausgebildete Strukturen und Prozesse, die der Mensch für seine Produkte und Verfahren kopiert.

Erst seit dem Ende des 20. Jahrhunderts entdeckte unsere technologisch geprägte Welt die besonderen funktionalen Eigenschaften in der natürlichen Umgebung und man begann diese zu untersuchen und nutzbar zu machen.

Allerdings hatten Menschen aus den Erfahrungen im Umgang mit der Natur schon viel früher Systeme entwickelt, die ihnen das Leben erleichterten: die Bewässerung durch das Anlegen von Terrassenfeldern, die Nutzung des Windes zur Trennung von Spreu und Weizen oder eine natürliche Klimatisierung mit Aufwindkühlung durch den Bau von Erdhäusern in heißen Regionen oder die Hypokaustenheizung, die man schon im Römischen Reich kannte.

Bionik heißt der Wissenschaftszweig, der sich mit diesen Themen befasst. Es geht darum, Ideen aus der Natur zu kopieren und für tägliche Anwendungen zu konzipieren. Was der Mensch mit viel Know-how aus verschiedenen Fachbereichen wie Architektur und Mechatronik sowie mit der Zuhilfenahme der Digitalisierung entwirft, ist in der Natur wohlmöglich bereits besser entwickelt. Blüten öffnen und schließen sich je nach Witterung, Bäume passen ihren Wuchs der Umwelt an, manche Pflanzen lassen nicht ein Staubkorn auf ihrer Oberfläche landen. Diese biologischen Funktionsweisen können für technische Anwendungen genutzt werden. Auch für die heute gestellten Anforderungen an den Haus- und Wohnungsbau könnten pflanzliche und tierische Vorbilder aus der Natur interessant sein.

Der Bionik liegt die Annahme zugrunde, dass die belebte Natur durch evolutionäre Prozesse optimierte Strukturen entwickelt, von denen der Mensch lernen kann.

Baubiologie dagegen ist die Beziehung des Menschen in und zu seiner Wohnumgebung.

Dabei stehen Gesundheit und Ästhetik in engem Zusammenhang. Das aufklärerische Ideal, das Nützliche mit dem Schönen zu verbinden, hat dabei eine hohe Bedeutung. Der Baubiologe ist demnach bestrebt, ein formschönes Wohnumfeld zu schaffen, in dem Funktionalität und Ästhetik sich harmonisch verbinden.

Vorbild für beide Bereiche, der Baubiologie und der Bionik, ist also die Natur.

Energie erzeugen und gewinnen, wärmen, transportieren, vergrößern (wachsen), fortbewegen, verpacken, klimatisieren, tragen, entfalten sind nur einige der Aufgaben, welche in der Natur in unzähligen Varianten erfüllt werden. Diese “technischen“ Entwicklungen des Lebens sind Antworten auf eine Notwendigkeit von Wachstum und Fortpflanzung, es sind auch Reaktionen auf Anpassungsprozesse, auf wechselnde Nutzungen.

Die Natur hat dabei Werkstoffe erschaffen und optimal entwickelt. Sie hat also bereits Rohstoffe optimiert und erprobt.

Auch Architekten und Ingenieure haben es bei ihren Aufgaben mit einer vergleichbaren Anforderungsvielfalt zu tun, wie wir sie in der Natur finden. Sie stehen jedoch vor den Schwierigkeiten der schöpferischen Umsetzung und praxiserprobten Verwendung. Hemmnisse ergeben sich aus Materialien, die lediglich einen Zweck erfüllen können und einer multiplen Verwendbarkeit nicht schadensfrei nachkommen.

Im Folgenden werden Beispiele beschrieben, wie die Bionik in der Baubiologie Anwendung finden kann.

Durch eine optimale Festigkeit zeichnet sich der Panzer einer Schildkröte aus. Durch seine harmonische Rundung lässt er Flüssigkeiten abperlen, trotzdem ist er so leicht, dass die Schildkröten sogar gut damit schwimmen können. Eine Gitterschale ist eine spezielle Tragwerks- und Dachkonstruktion, bestehend aus einer Schale, die ein flächiges Tragwerk bildet. Sie kann einfach oder doppelt (räumlich) gekrümmt sein und Belastungen sowohl senkrecht als auch in ihrer Ebene aufnehmen.

Diese Struktur machte sich der Baumeister Zollinger bereits in den 1920er Jahren zunutze und entwickelte eine neue Dachform. Seine Spitztonnendächer sind vielfach im Siedlungsbau der Zwischenkriegszeit in ganz Deutschland gebaut worden. Gegenüber dem traditionellen Satteldach mit ebenen Dachflächen bieten diese im Wohnhausbau Vorteile:

• Die gewölbte Außenform des Daches und der Verzicht auf Balken und Stützen ergibt eine bessere Raumnutzung.

• Die notwendige Menge Holz für den Dachstuhl verringert sich um über 40 Prozent.

• Wegen der segmentweisen Aneinanderreihung kurzer Holzstücke wird der Bedarf an langen Geraden Bohlen verringert.

• Die Montage des Daches ist so einfach, dass Bauherren beziehungsweise zukünftige Mieter bei dessen Errichtung mithelfen und somit Kosten sparen können.

Diese bionische Leichtbauweise von Zollinger führte folgerichtig zur Weiterentwicklung des modernen Bauens, einer Bauart unter Verwendung von Bauelementen, Zellen, Segeln, Schalen wie zum Beispiel das von Herbert Müller und Ulrich Müther entwickelte Hyperschalendach, von Muscheln und Vogelschwingen abgeschaut.

 

 

Ein weiteres Beispiel:

Für den Stuttgarter Flughafen entwickelte der Architekt Meinhard von Gerkan einen neuen Terminal, der von 18 Stützen getragen wird. Diese Stützen sind vom Stammaufbau von Waldbäumen kopiert und empfinden die Verästelungen in der Krone nach. Ihre Funktion ist die gleichmäßige Flächenverteilung, denn sie tragen das Pultdach. Die Halle wirkt dadurch sehr filigran.

Gebogene Strukturen kommen in der Natur in vielfältiger Weise vor: Spinnennetze sind durch ihre Struktur und ihr Material stabil und elastisch zugleich.

Wenn es um Leichtigkeit und gleichzeitig hohe Stabilität geht, kommt man an der Wabenform, wie sie Bienen und Wespen bauen, nicht vorbei. So haften Autoreifen mit einer Wabenstruktur wesentlich besser auf vereistem Untergrund. Sogar bei der Herstellung von Lampen zeigt sich eine Wabenstruktur effektiver als andere, da das Licht wenig reflektiert, aber breit gestreut wird. In der Bauindustrie werden inzwischen Platten mit Wabenstruktur angeboten, aber auch Architekten lassen sich vom Wabenmuster inspirieren.

 

In der Baubiologie interessiert allerdings nicht nur die harmonische Form, sondern vor allem das „natürliche“ Material. Modernes Bauen in bionischer Bauweise ist vor allem dann baubiologisch, wenn natürliche Werkstoffe zum Einsatz kommen. So ist der Klebstoff, mit dem die Spinnen ihre Netze befestigen, interessant. Schließlich handelt es sich um einen zu 100 Prozent biologisch abbaubaren Klebstoff.

"Cradle to Cradle"-Produkte sind biologische Stoffe, die in Kreisläufe zurückgeführt werden. Beim Bauen geht es zum Beispiel darum, die Sonne als Energiequelle zu nutzen und die natürliche Umgebung bei der Wahl der Materialien mit zu berücksichtigen. So sollte man fragen, was sind die ortsüblichen historischen Baustoffe, gibt es den Baustoff aus abgerissenen Gebäuden oder kann renaturiertes Brauchwasser an einen See oder Bach wieder abgegeben werden, können Begrünungsanteile auf Dächern oder Fassaden neben besseren Klimaeigenschaften auch wichtig für Vögel werden.

Unsere Zeit verlangt nach leichteren, energiesparenden, evtl. auch mobilen, anpassungsfähigen Häusern aus möglichst natürlichen Bauelementen aus Materialien, wie Stroh, Holz usw.

Der wissenschaftliche Beirat beim Bundesminister für Verkehr und digitale Infrastruktur hat berechnet, dass um die 60% des weltweiten Klimagasbudgets auf Grund der demographischen Entwicklung in den Bau von Gebäuden fließen. Eine bionische Leichtbauweise würde dieses Budget stark senken.

 

 

Fazit:

Die Bionik und Baubiologie tragen also dazu bei, dass wir unsere Häuser und Wohnungen mit natürlichen Materialien besonders sparsam, gesund und energieeffizient bauen könnten. Das Potenzial der jungen Wissenschaft Bionik ist groß. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft steckt in den kommenden vier Jahren fast zehn Millionen Euro in die interdisziplinäre Forschung zur Bionik. Das selbst gesteckte Ziel: „Multifunktionale, anpassungsfähige und gleichzeitig ökologisch effiziente Strukturen, die die Grenzen herkömmlicher Baukonstruktionen weit hinter sich lassen“, so Professor Jan Knippers von der Universität Stuttgart.[1]

Maschinen, Elektronik, Energie und sogar viele mechanische Bauteile sind überflüssig, wenn das in der Baubionik entwickelte Material die gewünschten Funktionen übernimmt. So ist es ja vielleicht tatsächlich bald möglich, ein intelligentes, sparsames Haus ganz ohne Vernetzung und Internet-Kühlschrank zu bauen. Ein Haus, in dem nicht die vom Menschen erdachte neueste Technik den Ton angibt, sondern die aus der Natur übernommenen, in Millionen Jahren entwickelten Funktionsweisen.[2]

 

 

Peter Reinhardt

b i o n i k

Baubiologische Beratungsstelle IBN